21

 

Als etwa dreißig Frauen die Palisadenumzäunung von Johns Palast durch die geöffneten Tore verließen, wurde Sam klar, daß sein Gegenspieler beschlossen hatte, ihm keinen Vorwand zu liefern. Freiheitsberaubung war in dieser Welt ein noch schlimmeres Verbrechen als Mord. Wenn sich herausstellte, daß den Frauen nichts geschehen war, würde es allerdings schwierig werden, ihren Entführer festzunageln.

Sam blieb plötzlich stehen. Er glaubte, sein Herzschlag müsse aussetzen, als er feststellte, daß Gwenafra sich unter den Frauen befand!

Laut ihren Namen rufend, rannte Lothar von Richthofen auf das Mädchen zu. Gwenafra breitete die Arme aus, lief ihm entgegen und fiel ihm um den Hals.

Sie umarmten und küßten sich. Gwenafra weinte, aber schließlich löste sie sich aus Lothars Griff und umarmte Sam, der sich in diesem Augenblick den größten Narren schalt, der je über die Oberfläche dieses Planeten gewandelt war. Hatte er ihr in dem Moment, in dem sie ihm zu verstehen gegeben hatte, daß er sie haben konnte, nicht sagen können, wie sehr er sie begehrte? Nun gehörte sie Lothar. Warum hatte er es ihr nicht gesagt? Wieso hatte er sich überhaupt in die schwachsinnige Idee verrannt, Livy würde eines Tages zu ihm zurückkehren, wenn er darauf verzichtete, sich mit einer anderen Frau zusammenzutun?

Sein Denken war eine einzige Fehleinschätzung der Lage gewesen. Aber was immer die Philosophen auch behaupteten, er war sicher nicht der einzige, der die Logik nur dann anwandte, wenn es darum ging, die eigenen Emotionen zu analysieren.

Gwenafra küßte ihn ebenfalls, und dabei liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Als sie ihn losließ und zu Lothar zurückkehrte, ließ sie Sam Clemens mit dem Problem, was er mit (oder besser gegen) John Lackland tun sollte, allein.

Sam durchschritt das Tor zu Johns Fort. Direkt hinter ihm ging Joe Miller. Kurz darauf hatte auch von Richthofen den Schritt aufgenommen. Er fluchte und murmelte auf deutsch: »Ich bringe ihn um!«

Sam blieb erneut stehen. »Du bleibst draußen«, ordnete er mit fester Stimme an. »Es reicht schon, wenn ich in dieser miesen Stimmung bin, aber jetzt sind wir in der Höhle des Löwen, und wenn du da irgendwelche Dummheiten versuchst, kann er dich abservieren lassen und im Endeffekt noch auf einer Notwehrlage bestehen. Und das würde er tun. Ich traue ihm sogar zu, daß er all das lediglich deswegen inszeniert hat, um sich uns vom Halse zu schaffen.«

»Nur du und Joe?« fragte Lothar erschreckt.

»Du solltest Joe besser nicht mit dem Wörtchen nur in Zusammenhang bringen!« erwiderte Sam. »Und wenn du nicht so stark damit beschäftigt gewesen wärst, mit Gwen zu schmusen, hättest du sicher auch mitbekommen, daß ich unseren Leuten befohlen habe, den Palast zu stürmen und jeden, den sie dort antreffen, umzubringen, wenn wir in fünfzehn Minuten nicht mit heiler Haut aus ihm herauskommen.«

Lothar starrte Sam an. »Du scheinst ja ganz schön geladen zu sein«, stellte er fest.

»Je mehr Ärger man mir bereitet und je länger sich der Bau unseres Schiffes verzögert«, erwiderte Sam, »desto höher steigt auch der Grad meiner Gemeinheit.« Er sagte wohlweislich nichts davon, daß der Zorn, den er auf John hatte, durch die Wut angesichts seines mit Gwenafra turtelnden Freundes eher noch angestachelt worden war. Zudem hatte der Ex-König ihm während der Zeit ihres Zusammenlebens soviel angetan, daß es nun endlich aus ihm heraus mußte, wollte er nicht daran eingehen.

Sam betrat das größte der hinter dem Palisadenzaun liegenden Gebäude und marschierte an Sharkey vorbei. Der muskelbepackte Schläger versuchte zwar, ihm den Weg zu verstellen, aber Sam ließ sich nicht aufhalten. Ein urwelthaftes Grollen drang aus der Kehle des haarigen Wesens, das gleich hinter ihm hermarschierte, woraufhin Sharkey den Fehler beging, nicht weit genug aus dem Weg zu gehen, weil er so schnell einfach nicht war. Eine gewaltige, mit dichtem roten Haar bewachsene Hüfte warf den über zwei Zentner wiegenden Mann zurück, als sei er eine Strohpuppe.

»Irgendwann werde ich dich umlegen!« knirschte Sharkey auf englisch.

Mit der Langsamkeit eines Geschützturmes drehte Joe den Kopf und sagte: »Tatfächlich? Unter Fuhilfenahme welcher Armee?«

»Seit du wieder gesund bist, bist du auch ziemlich schlagfertig geworden, Joe«, meinte Sam. »Zweifellos ist das meinem guten Einfluß auf dich zu verdanken.«

»Ich bin jedenfallf nicht fo doof, wie ich auffehe«, gab Joe zurück.

»Das wäre auch gar nicht möglich.«

Sams Wut hatte, was ihre Hitze anbetraf, mittlerweile den Zustand kochenden Wassers erreicht. Selbst in der Begleitung Joes war er weit davon entfernt, sicher zu sein. Aber immerhin wußte er, daß John letztlich nicht weiter mit ihm gehen konnte, als ihn zu ärgern. Schließlich wollte auch er das geplante Schiff.

John saß zusammen mit einem runden Dutzend seiner Schläger an dem großen runden Eichentisch. Der Gigant Zaksksromb stand direkt hinter ihm. Sie hielten tönerne Bierkrüge in den Händen. Im ganzen Raum roch es nach Tabak und Alkohol. Johns Augen waren rot, aber das waren sie immer. Licht drang durch die Fenster, aber das direkte Sonnenlicht wurde durch die Palisadenwände abgehalten. Einige Pinienholzfackeln erzeugten rauchige Flammen.

Sam hielt inne, entnahm der kleinen hölzernen Schachtel, die er in einem an seinem Gürtel hängenden Beutel verwahrte, eine Zigarre und zündete sie an. Es ärgerte ihn ein wenig, daß seine Hand dabei zitterte, was wiederum seinen Zorn auf John erhöhte.

»In Ordnung, Euer Majestät«, sagte er schließlich. »Es war schon schlimm genug, daß du die Absicht hattest, diese armen Frauen deinem Harem einzuverleiben, aber Gwenafra? Sie ist immerhin eine Bürgerin dieses Staates! Damit hast du deinen Hals von selbst in die Schlinge gesteckt, John, und diesmal meine ich es wirklich ernst!«

John ließ den Krug sinken und setzte ihn sanft auf der Tischplatte ab. Mit ausnehmend freundlicher Stimme erwiderte er: »Ich habe diese Frauen lediglich aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit hier hergebracht. Die Menge hat sich sehr häßlich aufgeführt; man wollte die Missionare töten. Daß Gwenafra sich unter ihnen befand, war nichts als ein Irrtum. Ich werde natürlich herausfinden, wer diesen Fehler begangen hat, und ihn zur Rechenschaft ziehen.«

»John«, sagte Sam mühsam beherrscht aber samtweich, »du weißt doch ebenso gut wie ich, daß das, was du da behauptest, nicht der Wahrheit entspricht. Und nichts davon kannst du beweisen. Neben dir steht sogar der Teufel wie ein Waisenknabe da. Du bist wirklich der Vater aller Lügen. Ich glaube nicht, daß dich in der Vergangenheit jemand hierin je übertroffen hat, ebenso wie das in der Zukunft kaum möglich sein wird. Der Vater der Lüge, von eigenen Gnaden. Wenn die Offensichtlichkeit das Kennzeichen des größten Lügners ist, dann sind alle anderen Lügner dieser Welt neben dir nur nette Menschen neben dem Weihnachtsmann.«

Johns Gesicht rötete sich. Zaksksromb schnaufte und hob seinen Riesenknüppel. Joe knurrte.

John stieß zischend die Luft aus und sagte mit breitem Lächeln: »Du regst dich wegen eines bißchen Blutes auf? Du wirst es überleben. Und außerdem dürfte es dir unmöglich sein, alles zu überprüfen, was ich je in meinem Leben gesagt habe, nicht wahr? Nebenbei bemerkt, hast du die Ratsversammlung schon einberufen? Die Gesetze unseres Landes zwingen dich dazu, wie du wissen solltest.«

Das Schlimme an der Sache war, daß John es durchstehen würde. Jeder, selbst diejenigen, die ihm die Stange hielten, wußten, daß er log. Und dennoch konnte man nichts gegen ihn unternehmen, ohne einen Bürgerkrieg zu entfachen, der sogleich alle diejenigen auf den Plan rief, die wie ein ausgehungertes Wolfsrudel darauf warteten, daß die Bewohner von Parolando sich gegenseitig an die Kehle fuhren: Iyeyasu, Hacking, und vielleicht sogar die angeblich Neutralen wie Publius Crassus, Chernsky, Tai Fung und die Barbaren vom anderen Flußufer.

Sam schnaubte und ging hinaus. Zwei Stunden später waren seine Erwartungen bereits Realität. Die Ratsversammlung sprach gegen John wegen seiner übereilten Handlung und der Verkennung der Sachlage eine Rüge aus. Des weiteren trug man ihm auf, sich demnächst mit seinem Mitkonsul zusammenzusetzen und einen Plan auszuarbeiten, der derartige Vorkommnisse in Zukunft unmöglich machen sollte.

Niemand hegte einen Zweifel daran, daß John – sobald man ihn die Entscheidung der Ratsversammlung wissen ließ – in schallendes Gelächter ausbrechen und nach Alkohol, Tabak, Marihuana und seinen Frauen verlangen würde.

Dennoch hatte er keinen hundertprozentigen Sieg davongetragen. Jeder Bürger von Parolando wußte inzwischen, daß Sam Clemens ihm die Stirn geboten hatte, mit nur einem Begleiter in seinen Palast eingedrungen war, für die Freilassung der Frauen verantwortlich war und es sich nicht hatte nehmen lassen, John offen ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Und das wußte der Ex-König; sein Triumph stand auf tönernen Füßen.

Sam stellte weiterhin den Antrag, alle Angehörigen der Chancisten des Landes zu verweisen, aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit, aber mehrere Ratsmitglieder beharrten auf dem Standpunkt, daß dies illegal sei; dazu müsse erst die Charta geändert werden. Des weiteren sei man der Ansicht, daß ihnen nach der gegen John ausgesprochenen Verwarnung zumindest von seiner Seite keinerlei Gefahren mehr drohten.

Natürlich wußten die Männer ebenso gut wie Sam, daß er im Grunde nichts anderes wollte, als die günstige Gelegenheit zu nutzen, aber einige der Ratsangehörigen ließen sich einfach nicht umstimmen. Es war nicht auszuschließen, daß sie sich schämten, nichts gegen John erreicht zu haben. Nun wollten sie zumindest in diesem Punkt keinen faulen Kompromiß schließen.

Sam wäre jede Wette eingegangen, daß die Überlebenden des Massakers Parolando so schnell wie möglich wieder verlassen wollten. Aber sie bestanden darauf, zu bleiben. Das Gemetzel hatte sie offenbar in der Überzeugung bestärkt, daß Parolando sie dringend benötigte. Göring begann bereits mit dem Bau mehrerer neuer Hütten für die Neuankömmlinge. Sam ließ ihm mitteilen, daß er damit wegen der allgemeinen Holzknappheit aufhören solle, woraufhin von Göring die Antwort kam, daß er und seine männlichen Genossen ihre eigenen Hütten verlassen und von nun an unter den Überhängen der Gralsteine schlafen würden. Sam stieß einen Fluch aus, blies dem chancistischen Kurier den grünen Rauch seiner Zigarre ins Gesicht und sagte ihm, daß er es zutiefst bedaure, daß es keine Lungenentzündungen mehr gäbe. Hinterher hatte er zwar das Gefühl, sich seiner Worte schämen zu müssen, aber er ließ sich trotzdem nicht erweichen. Andererseits hatte er auch nicht vor, den Chancisten die Daumenschrauben derart anzuziehen, daß sie nicht einmal mehr ein Dach hatten, unter dem sie schlafen konnten.

Die Sache machte ihm zwar den ganzen Tag über zu schaffen, aber als der Abend heranrückte und ihn zwei Botschaften erreichten, die er nicht erwartet hatte, schien sich die Erde unter ihm aufzutun. Die erste besagte, daß Odysseus während der letzten Nacht von seinem auf dem Rückweg nach Parolando befindlichen Schiff verschwunden sei.

Niemand wußte, was mit ihm geschehen war; er war einfach weg. Die zweite Botschaft informierte Sam darüber, daß man die Leiche seines auf John angesetzten Agenten William Grevel am Fuße der Berge mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden hätte.

Also hatte John etwas über ihn erfahren und Grevel exekutiert. Und jetzt würde er sich ins Fäustchen lachen, weil er nur allzu gut wußte, daß Sam ihm diesen Mord nicht nachweisen konnte, ohne gleichzeitig zu offenbaren, daß Grevel in seinen Diensten gestanden hatte.

Sam ließ Lothar, de Bergerac und einige andere Männer rufen, von denen er wußte, daß sie auf seiner Seite standen. Es war ihm zwar nicht unbekannt, daß de Bergerac wegen seines Verhältnisses mit Livy Vorbehalte gegen ihn hatte; andererseits allerdings war ihm auch nicht unbekannt, daß der französische Haudegen ihn allemal König John vorzog. Die beiden hatten sich manche hitzige Debatte geliefert.

»Möglicherweise ist das Verschwinden Odysseus’ nur ein Zufall«, sagte Sam, »aber im Zusammenhang mit dem Verschwinden und dem Tod von William Grevel stelle ich mir doch die Frage, ob John nicht schon wieder dabei ist, hinter unserem Rücken irgendeinen Verrat zu planen. Es ist nicht auszuschließen, daß er plant, mir nach und nach alle meine Freunde zu nehmen, und zwar unter Umständen, die mir keine Handhabe geben, ihn anzuklagen. Er ist ein schlauer Fuchs. Sicher wird er jetzt erst einmal für eine Weile nichts tun, damit sein Vorhaben nicht allzu offensichtlich wird. Odysseus verschwand in einer Umgebung, deren Untersuchung uns nicht das geringste offenbaren würde. Und was den Fall Grevel anbetrifft, so sind mir praktisch die Hände gebunden. Wenn ich versuchen würde, John diesen Mord nachzuweisen, würde ich mich selbst anschmieren. Ihr solltet also von jetzt an besonders dann die Augen offen halten, wenn ihr euch in Situationen befindet, die zu Unfällen neigen. Und seid besonders vorsichtig, wenn niemand in eurer Nähe ist.«

»Morbleu!« sagte Bergerac. »Würde es dieses dumme Gesetz nicht geben, das Duelle verbietet, könnte ich John fordern und ihn zur Schnecke machen. Und Sie waren es, Sinjoro Clemens, der diese unsinnige Vorschrift erlassen hat!«

»Ich wuchs in einem Land auf, in dem Duelle keine Seltenheit waren«, sagte Sam. »Allein der Gedanke daran macht mich krank. Wenn Sie die Tragödien gesehen hätten, die… Aber lassen wir das. Ich nehme an, daß Sie das selber wissen, und offensichtlich hat es Ihnen nichts ausgemacht. Nebenbei bemerkt, glauben Sie wirklich, daß John Sie überhaupt weiterleben ließe, wenn die Möglichkeit bestünde, daß jemand ihn im Duell tötet? Ach was. Sie würden spurlos verschwinden oder einen Unfall erleiden, darauf können Sie Gift nehmen!«

»Wiefo kann John nicht felbft bei einem Unfall umf Leben kommen?« fragte Joe Miller.

»Dazu müßte man erst diese lebende Mauer aus Leibwächtern übertölpeln«, meinte Sam. »Nein. Wenn John je einem Unfall zum Opfer fällt, wird das ein echter sein.«

Er entließ die Männer bis auf Cyrano und Joe, der außer wenn er krank war oder das Gefühl hatte, allein sein zu müssen, nie von Sams Seite wich.

»Der Fremde sagte, er habe für den Angriff auf den Nebelturm zwölf Menschen ausgewählt«, sagte Sam. »Dich, Joe, Richard Francis Burton, Cyrano, Odysseus und mich. Das sind fünf. Niemand von uns weiß, wer die anderen sieben sind. Und jetzt ist Odysseus verschwunden, und niemand weiß, ob wir ihn wiedersehen werden. Der Fremde sagte auch, daß die anderen zu uns stoßen werden, sobald das Schiff fertig ist und sich in Bewegung setzt. Wenn Odysseus umgebracht wurde und an einem Ort erwacht, der weit flußabwärts liegt, und er es nicht schafft, hierher zukommen, bis das Schiff fertig ist, sieht die Sache für ihn übel aus.«

Cyrano zuckte die Achseln und kratzte sich die Nase. »Weswegen sollten wir uns denn Sorgen machen? Entspricht das etwa Ihrem Charakter? Nach allem, was wir wissen, ist Odysseus jedenfalls nicht tot. Vielleicht hat er sogar wieder Kontakt mit dem geheimnisvollen Fremden aufgenommen, der, nebenbei gesagt, laut seiner Aussage eine Frau ist und schon deswegen nicht mit dem identisch sein kann, den Sie und ich kennen lernten. Mordoux! Ich schweife ab! Ich wollte damit folgendes sagen: Er kann ebenso gut von dieser geheimnisvollen Person abberufen worden sein, um irgend etwas anderes zu tun, das wir erst später erfahren werden. Lassen wir diesen schattenhaften Engel – oder Unhold – seinen Kopf über derartige Dinge zerbrechen. Wir sollten uns jetzt darauf konzentrieren, den Schiffsbau in Angriff zu nehmen, und uns jene Leute vom Halse halten, die es darauf anlegen, unsere Pläne zu sabotieren.«

»Da haben fie teilweife nicht einmal unrecht«, ließ sich Joe Miller vernehmen. »Wenn Fäm für jedef Mal, wenn er fich Forgen macht, ein Härchen wachfen würde, fähe er jeft fön auf wie ein Ftachelfwein. Waf mich übrigenf daran erinnert, daf…«

»Papperlapapp«, sagte Sam. »Kindergeschwätz… und das von schwanzlosen Affen. Oder vielleicht nicht? Wir werden jedenfalls, wenn alles gut geht – was man von der bisherigen Lage ja wohl nicht gerade hat behaupten können –, in dreißig Tagen mit dem Schweißen der Schiffshülle beginnen. Das wird der glücklichste Tag in meinem Leben werden – abgesehen vom Stapellauf des Schiffes natürlich. Möglicherweise sogar ein glücklicherer als der, an dem mir Livy ihr Jawort gab.«

Es wäre leicht gewesen, den letzten Satz zu verschlucken, aber irgendwie ritt Sam der Teufel. Aber Cyrano reagierte nicht. Warum sollte er auch? Schließlich hatte er Livy, und zu ihm sagte sie fortwährend ja.

»Was mich angeht«, sagte der Franzose, »kann ich mich mit dem Gedanken nicht so recht anfreunden, denn ich bin ein friedliebender Mensch. Viel lieber würde ich die Genüsse auskosten, die uns das Leben bietet. Es wäre mir wichtiger, Kriege zu vermeiden und Streitigkeiten statt dessen von Gentlemen austragen zu lassen, die wissen, wie man mit einem Degen umgeht. Aber es wird unmöglich sein, das Schiff ohne unliebsame Unterbrechungen zu bauen, solange es Menschen gibt, die auf unser Metall spekulieren und alles unternehmen, um in seinen Besitz zu kommen. Deswegen meine ich, daß es vielleicht doch nicht so ganz falsch ist, was John Lackland meint: Möglicherweise sollten wir doch, wenn wir erst einmal genügend Waffen haben, einen großangelegten Feldzug gegen alle Staaten im Umkreis von dreißig Meilen wagen, um von vorneherein alle potentiellen Gegner auszuschalten. Erst dann stünde uns die Chance offen, an all die Mineralien heranzukommen, die wir brauchen, und niemand würde uns daran hindern, wenn wir sie abbauen…«

»Aber selbst wenn Sie jeden einzelnen Bewohner dieser Länder umbrächten«, warf Sam ein, »würde es nur einen Tag dauern, bis sie wieder bevölkert wären. Sie wissen doch, wie das Wiedererweckungs-System funktioniert. Denken Sie nur daran, wie schnell es nach dem Meteoritenabsturz hier wieder von Menschen wimmelte.«

Cyrano hob die Hand und streckte seinen – schmutzigen – Zeigefinger aus. Sam fragte sich, ob Livy ihren Kampf um seine Reinlichkeit inzwischen eingestellt hatte.

»Ha!« sagte Cyrano. »Aber diese Leute werden unorganisiert sein und müßten sich – da wir ja schon vor ihnen da waren – unseren Ordnungsvorstellungen fügen. Sie würden sich ebenso verhalten müssen wie alle anderen, die in Parolando leben. Sie würden an der Lotterie um die Mannschaftsplätze des Schiffes aufgenommen! Wir wären mit der Arbeit schneller fertig, wenn wir den Schiffbau zunächst einmal unterbrechen und nach meinen Vorschlägen verfahren.«

Und ich muß dich immer weiter in die Führungsspitze aufsteigen lassen, dachte Sam. Und dann geht es wieder los, wie bei David, Bathseba und Uriah, ausgenommen, daß David möglicherweise kein Gewissen besessen und sich deswegen auch nicht um seine Nachtruhe gesorgt hatte.

»Ich sehe das anders«, meinte Sam. »Zunächst einmal würden wir unsere eigenen Leute gegen uns aufbringen, wenn wir die Anzahl der Mannschaftskandidaten verdoppeln oder verdreifachen, auch wenn sie wie die Teufel kämpfen würden, wenn sie erführen, daß davon die Fertigstellung des Schiffes abhängt. Abgesehen davon, wäre das ein Unrecht.«

De Bergerac stand auf. Seine Hand lag auf dem Griff seines Rapiers. »Vielleicht haben Sie recht. Aber Sie haben sich bereits an dem Tag, an dem Sie sich mit John Lackland zusammentaten und Erik Blutaxt töteten, auf einen Pfad begeben, der unweigerlich in Verrat, Tod und Grausamkeit enden muß. Ich will Sie nicht verurteilen, mein Freund. Was Sie taten, war absolut notwendig – wenn Sie nichts als das Schiff im Sinn hatten. Aber man kann nicht auf diese Weise beginnen und dann davor zurückschrecken, ähnliche – oder sogar schlimmere – Taten zu vollbringen. Jedenfalls nicht dann, wenn Sie Wert auf Ihr Schiff legen, mein Lieber. Gute Nacht.« Cyrano verbeugte sich und ging. Sam tat einen tiefen Zug an seiner Zigarre und sagte dann: »Ich hasse diesen Menschen. Er sagt die Wahrheit!«

Joe stand auf. Der Boden knirschte unter dem Gewicht seiner achthundert Pfund.

»Ich gehe jetft inf Bett. Ich habe von dem ganfen Gerede folche Kopffmerzen gekriegt, daf ich fie fogar in meinem Hintern fpüre. Entweder tuft du, waf Fyrano fagt, oder du tuft ef nicht. Daf ift doch ganf einfach.«

»Wenn mein Gehirn auch in meinem Arsch säße, würde ich dasselbe sagen!« schnaufte Sam erbost. »Joe, ich liebe dich! Du bist wirklich ein goldiges Kerlchen. Und die ganze Welt ist so unkompliziert! Wenn die Probleme anfangen, dir Kopfschmerzen zu bereiten, wirst du müde und gehst ins Bett. Aber ich…«

»Gute Nacht, Fam!« sagte Joe und verschwand im Nebenzimmer. Sam überprüfte, ob die Tür verschlossen war und die eingeteilten Wachen auf ihren Posten standen, dann legte er sich auch hin.

Im Traum erschien ihm Erik Blutaxt und jagte ihn mit gezückter Waffe durch das ganze Schiff, bis es Sam gelang, sich irgendwo einzuschließen. Er erwachte mit einem Aufschrei und stellte fest, daß Joe Miller sich über ihn beugte und sanft schüttelte. Der Regen prasselte auf das Dach, und irgendwo über den Berggipfeln krachte der Donner.

Joe blieb bei ihm und kochte Kaffee, indem er das Pulver einfach in kaltes Wasser schüttete, das sich innerhalb von drei Minuten selbst erhitzte. Dann saßen sie schlürfend beieinander und unterhielten sich – während Sam eine Zigarre rauchte – über die Zeit, während der sie zusammen mit Blutaxt und seinen Wikingern flußaufwärts gereist waren, um nach Eisen zu suchen.

»Fumindeft hatten wir damalf hin und wieder mal einen kleinen Fpaf«, sagte Joe. »Aber daf ift nun vorbei. Jetft befteht unfer Leben nur noch auf Arbeit. Und dann noch all die Leute, die einem am liebften daf Fell über die Ohren fiehen würden und hinter unferen Fätfen her find. Und dann mufte auch noch deine Frau mit diefem grofnafigen Fyrano hier auftauchen!«

Sam kicherte und sagte: »Vielen Dank, daß du mich mal wieder zum Lachen gebracht hast, Joe! Cyrano, der Großnasige! Ihr Götter!«

»Manchmal kann fogar ich dir noch waf beibringen, waf, Fäm?« sagte Joe grinsend. Er glitt vom Tisch herunter, auf dem er Platz genommen hatte, und ging in sein Zimmer zurück.

Es gab für Sam in dieser Nacht nur noch wenig Schlaf. Er hatte während seiner Lebenszeit auf der Erde gelegentlich sogar dann den ganzen Tag über im Bett verbracht, wenn die vergangene Nacht ausgesprochen erfreulich verlaufen war. Und nun kam er kaum zu fünf Stunden echter Ruhe, obwohl er tagsüber ab und zu eine Siesta einlegte. Irgend jemand tauchte immer auf, um ihm eine Frage zu stellen oder eine Entscheidung aus ihm herauszuholen. Zudem waren seine Chefingenieure weit davon entfernt, jede Anordnung widerspruchslos hinzunehmen, und allein das reichte schon aus, um Sam nervös zu machen. Er hatte die Ingenieurswissenschaften bisher immer als absolut trockene Angelegenheit aufgefaßt. Zeig mir dein Problem, und wir lösen es schnellstens. Aber sowohl van Boom als auch Welitskij und O’Brien schienen in verschiedenen Welten zu leben, die man nur mühsam in einen Gleichklang bringen konnte. Schließlich blieb Sam, um den endlosen Diskussionen und stundenlangen Richtungsstreitigkeiten zu entgehen, nichts anderes übrig, als van Boom die letzte Entscheidung zu überlassen. Dennoch war es weiterhin überraschend, mit wie vielen Problemen die Ingenieure zu ihm kamen, um seine Ansicht einzuholen.

Iyeyasu hatte in der Zwischenzeit nicht nur das Gebiet der ihm gegenüber lebenden Buschmann-Hottentotten an sich gerissen, sondern auch neun Meilen vom Reich der Ulmaks erobert. Als er damit fertig war, schickte er eine Flotte gegen das drei Meilen breite Land der Fuchsindianer los, deren Gebiet sich an das der Ulmaks anschloß. Auch diesen Staat verleibte er seinem wachsenden Imperium ein. Er ließ die Hälfte der Indianer töten und begann danach wieder mit Parolando um den Holzpreis zu feilschen. Jetzt wollte er auch noch ein Amphibienboot in der Art der Feuerdrache 1 haben.

Zu diesem Zeitpunkt war das zweite Boot dieses Typs beinahe fertig.

Mittlerweile hatten fünfhundert Schwarze Parolando verlassen. Eine gleiche Anzahl von Draviden wanderte aus Hackings Gebiet ein. Sam hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, die Wahhabi-Araber aufzunehmen, und es zumindest durchgesetzt, daß die Inder als erste kamen. Das schien Hacking zwar nicht sonderlich zu gefallen, aber schließlich konnte man sich in Parolando darauf berufen, daß keinerlei Abmachungen darüber getroffen worden waren, welche Gruppe zuerst in ihr Gebiet einwanderte.

Schließlich sandte Hacking, den seine Spione inzwischen von den Forderungen Iyeyasus unterrichtet hatten, eine Botschaft. Auch er wolle einen Feuerdrachen, hieß es, und er sei bereit, im Austausch dafür eine große Menge an Mineralien herauszurücken.

Publius Crassus und Tai Fung schlossen sich plötzlich zusammen und starteten eine gemeinsame Invasion auf das Gebiet, das ihnen gegenüber lag. Dort lebten Steinzeitmenschen aus allen Gebieten und den unterschiedlichsten Zeiten der Erde auf einem vierzehn Meilen langen Uferstreifen. Die Invasoren töteten die Hälfte der Bevölkerung mit ihren überlegenen Eisenwaffen und versklavten den Rest. Dann setzten auch sie ihre Holzpreise herauf, blieben jedoch ein wenig unterhalb der Forderung Iyeyasus.

Spione berichteten, daß Chernsky, der ein vierzehn Meilen langes Gebiet nördlich von Parolando beherrschte, Soul City einen Besuch abgestattet hatte. Was er dort gewollt hatte, war allerdings nicht herauszufinden gewesen, da Hackings Spionageabwehrnetz sich als hundertprozentig dicht erwies. Sam hatte acht schwarze Spione auf Hacking angesetzt und wußte, daß es John gelungen war, mindestens ein Dutzend abzuschicken. Eines Tages wurden von unbekannten Leuten während der Nacht die Köpfe aller Spitzel über die das Ufer umsäumende Palisadenwand Parolandos geworfen.

Und eines Nachts tauchte van Boom bei Sam auf und berichtete, daß er Firebrass getroffen habe.

»Er hat mir die Position des Chefingenieurs auf dem Schiff angeboten«, erzählte er.

»Erhat Ihnen das angeboten?« fragte Sam. Er war dermaßen erschrocken, daß ihm beinahe die Zigarre aus dem Mund fiel.

»Ja. Er hat es zwar nicht geradeheraus gesagt, aber sein Angebot war unverkennbar. Hackings Leute werden das Schiff an sich reißen, und dann soll ich Chefingenieur werden.«

»Und was haben Sie ihm auf dieses nette Angebot erwidert? Verlieren können Sie schließlich nichts, egal was Sie auch tun.«

»Ich sagte ihm, er solle nicht um den heißen Brei herumreden, sondern offen sein. Er grinste zwar, sagte aber nichts. Ich erklärte ihm, daß ich zwar keinen Eid auf Sie geleistet hätte, aber auf ein Angebot von Ihnen eingegangen und damit zufrieden sei; daß ich nicht die Absicht hätte, Sie zu betrügen und ich, falls Hacking Parolando überfiele, dieses Land nach Kräften verteidigen würde.«

»Das ist gut, ausgezeichnet!« erwiderte Sam. »Hier, nehmen Sie einen Schluck Bourbon. Und eine Zigarre. Ich bin stolz auf Sie, und gleichzeitig auf mich: Wer hat schon das Glück, derart loyale Mitarbeiter zu haben? Aber ich wünschte… ich wünschte…«

Van Boom sah ihn über den Rand des Bechers hinweg an.

»Ja?«

»Ich wünschte, Sie wären zum Schein auf sein Angebot eingegangen. Möglicherweise hätten wir so eine Menge Informationen aus ihm herausholen können.«

Van Boom stellte das Trinkgefäß ab und stand auf. Er war sichtlich ungehalten. »Ich bin doch kein dreckiger Spitzel!«

»Bleiben Sie hier«, sagte Sam, aber van Boom ignorierte ihn. Eine Minute lang stützte Sam den Kopf in seine Hände und starrte den ungeleerten Becher des Ingenieurs an. Nach einer Weile nahm er ihn in die Hand. Niemand sollte ihm nachsagen, er ließe einen guten Whisky umkommen. Nicht einmal einem schlechten konnte das in seiner Gegenwart passieren. Aber schließlich lieferten die Gräle nur die besten Sachen.

Van Booms Skrupel irritierten ihn ein wenig. Gleichzeitig verspürte Sam jedoch das gute Gefühl, mit einem anständigen Menschen gesprochen zu haben. Es war gut, zu wissen, daß es Leute gab, die sich nicht bestechen ließen.

Zumindest um van Boom brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen.

 

Auf dem Zeitstrom
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